Gerade zu Beginn der Corona-Pandemie wurde unermüdlich „propagiert“ diese Krise als Chance zu sehen. Das Beste daraus zu machen, gestärkt aus der Situation hervorzugehen, Dich und Dein Sein zu verändern und anzupassen.
Daran ist grundlegend nichts verkehrt. Es ist immer besser die Chancen zu sehen und nicht bei dem, was schlecht ist oder nicht klappt, zu verharren.
Auch Anpassungen und Weiterentwicklungen sind notwendig und von Zeit zu Zeit vielleicht sogar überfällig.
Was mich an der Begeisterung für die Gleichung „Krise = Chance“ stört ist das Dogma das dahintersteckt.
Nach dem Motto: „Du hast es gefälligst so zu sehen und entsprechend zu handeln. Wenn Dir das nicht gelingt, bist Du eben selbst schuld …“
Menschen in Krisen dazu aufzufordern es doch bitte schön positiv und als Chance zu sehen, ist zynisch.
Wenn es Dir gelingt, das Beste aus der aktuellen Situation zu machen, zu wachsen und Dich zu verändern, die Chancen zu sehen und auch zu ergreifen, dann: Herzlichen Glückwunsch! Mach weiter so! Alles super! (Das meine ich wirklich ernst).
Doch was, wenn es Dir nicht so einfach gelingt. Weil es Dich wirklich richtig beutelt, Deine berufliche Existenz akut gefährdet ist und Du vor dem Aus stehst…?!?!
Ich finde es zynisch, von Menschen, die sich in solchen Situationen befinden zu verlangen, das Ganze doch bitte schön als Chance zu sehen! Ganz nach dem Motto: Du musst die Dinge halt nur positiv sehen!
Wenn es so einfach wäre, wären wir alle super glücklich und erfolgreich.
Das ist ja schon im „normalen“ Leben alles andere als einfach. Wenn das ginge und damit Veränderungen so einfach zu bewerkstelligen wären, wären wir alle schlank, mega sportlich, fit und gesund und zudem würden wir einen Haufen Geld im Schlaf verdienen ohne uns anstrengen zu müssen…
Allein dass dies nicht der Fall ist, zeigt ja schon, dass dieses „Motivations-Gerede“ nicht ganz so gut funktioniert, wie gerne behauptet wird…
Doch woher kommt die Gleichung: Krise = Chance eigentlich?
Angeblich haben die Chinesen nur ein Wort, das gleichzeitig Krise und Chance bedeutet.
Sehr gerne wird sich auf das chinesische Schriftzeichen berufen, das in einem sowohl „Krise“ als auch „Chance“ bedeuten soll.
Auch große Persönlichkeiten stimmen in diesen Kanon ein: „Von den Chinesen können wir einiges lernen“, meinte Richard von Weizsäcker. „Man hat mir gesagt, sie hätten ein und dasselbe Schriftzeichen für die Krise und für die Chance.“
Doch genau das stimmt wohl leider so nicht….
Christoph Drösser schrieb bereits in der „Zeit“ vom 28.08.2003 dazu: „Das ist eine von den Weisheiten, die gern in Managementseminaren verbreitet werden – aber nicht ganz stimmen.
Im Chinesischen werden abstrakte Begriffe oft aus zwei elementaren Wörtern (und damit Schriftzeichen) zusammengesetzt. So auch in diesem Fall: Krise wird mit weiji 危机 übersetzt, Chance mit jihui 机会.
Beiden gemeinsam ist also das Zeichen ji 机, das unter anderem Gelegenheit bedeutet. Wei dagegen heißt Gefahr, sodass in weiji die Bedrohung, aber auch ein Element der Wende zum Besseren enthalten ist; hui wiederum wird ebenfalls mit Gelegenheit übersetzt, bei diesem Wort liegt also eine Art Bedeutungsverdoppelung vor.
Es gibt also sehr wohl auch im chinesischen zwei Wörter, eins für „Krise“, eins für „Chance“. Und ja, beiden gemeinsam ist der Wortteil „Gelegenheit“.„
„Gelegenheit“ ist also der Wortteil, der in beiden chinesischen Wörtern steckt.
Das hört sich für mich irgendwie anders an als „Chance“.
„Gelegenheit“ versus „Chance“ – fast dasselbe, aber doch mit feinen Unterschieden.
„Chance“ hat für mich immer eine Bedeutung von „die gilt es zu ergreifen“ bevor sie vergeht. Lieber schnell zuschnappen. Was man hat, das hat man. Denn: eine „Chance“ kommt einfach so vorbei, auf sie trifft man mehr oder weniger zufällig, wer weiß, wann sich die nächste zeigt, besser allzeit bereit sein…
Irgendwie fordert einen eine Chance zu schnellem und entschlossenem Handeln auf, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass eben genau die „Chance“ auch schnell und unwiederbringlich vorbei sein könnte. Und eine verpasste Chance ist eine echt schlechte Erfahrung, die einem lange nachhängt.
Die Frage, ob diese Chance denn auch genau das Richtige sei, was Du jetzt auch brauchst oder was Dich wirklich weiterbringt, bleibt dabei unbeantwortet.
Das spielt dabei eher eine untergeordnete Rolle.
So interpretiere ich jedenfalls das Wort. Vielleicht ist das bei Dir ja ganz anders.
Gelegenheiten kannst Du Dir selbst schaffen!
„Gelegenheit“ dagegen beinhaltet für mich mehr Möglichkeiten, mehr Spielraum, mehr Freiheit. Außerdem keine negativen Konsequenzen, wenn ich die Gelegenheit nicht ergreife. Eine andere wird sicher kommen. Oder aber, ich mach sie mir selbst.
Denn aus meiner Sicht gilt vor allem:
Eine Gelegenheit ist etwas Aktives, die Du auch selbst schaffen kann.
Ich kann mich sozusagen besinnen und aktiv danach Ausschau halten, welche Gelegenheiten, also Möglichkeiten mir die aktuelle Situation bietet. Und noch mehr: Ich kann sie aktiv beeinflussen und umgestalten, so wie es für mich gut ist. Ich kann also immer agieren. Und muss nicht „reflexhaft danach schnappen“.
Auch hier wieder: Das ist meine Interpretation und mein Verständnis des Wortes. Für Dich kann beides ganz anders klingen und etwas anderes bedeuten. Aber ich wollte Dir gerne diese Option darlegen. Vielleicht magst Du drüber nachdenken.
Eine Krise ist immer ein einschneidendes Erlebnis.
Doch jetzt genug der Wortspiele. Worauf ich mit diesem Artikel hinaus will ist Folgendes: Eine Krise ist ein einschneidendes Erlebnis.
Auch wenn das Wort in seiner ursprünglich aus dem Griechischen stammenden Bedeutung „Meinung, Beurteilung, Entscheidung“ eigentlich gar nicht sooo dramatisch ist! (später erfuhr das Wort dann eine Zuspitzung und bekam die Bedeutung von „trennen“ und „(unter-)scheiden“).
Im Grunde kann man eine Krise also als eine problematische, mit einem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssituation betrachten.
Das klingt doch ziemlich nüchtern und undramatisch, oder?!
Vielleicht steckt darin ja das ganze Geheimnis der Menschen, die auch aus Krisen das Beste machen können. Nicht, weil sie es müssen, sondern weil sie es schaffen, sich für eine Wende zu entscheiden.
„Auch an einem Krisenherd wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“
Lothar Schmidt in seinem Buch „Worte sind Waffen“
Deine Dagmar Ruth